Die neuen Schlafwandler

Wie Ärzte und Patienten die KI-Revolution verschlafen

CR

Christoph Ruwwe-Glösenkamp

29. Juni 2025

Schlafwandelnd in die KI-Revolution: Wie künstliche Intelligenz die Medizin bereits heute verändert

Letzte Woche sah ich einen 45-jährigen Mann, der an Sarkoidose leidet – einer Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem fälschlicherweise körpereigenes Gewebe als fremd erkennt und angreift. Bei der Sarkoidose ist besonders häufig die Lunge betroffen, und so auch bei diesem Patienten.

Die Diagnose war für ihn nicht neu. Vor einem Jahr wurde sie in einem Krankenhaus gestellt und richtigerweise zunächst nicht behandelt. Die Lungenveränderungen waren nicht besonders ausgeprägt, die Symptome – Husten und Abgeschlagenheit – für den Patienten durchaus tolerierbar. Eine Behandlung der Sarkoidose würde bedeuten, dass wir Medikamente geben, die das Immunsystem teilweise unterdrücken. Dies ist nicht ohne Risiken, weshalb wir wenn möglich darauf verzichten möchten.

In der Kontrolle bei mir zeigten sich auch ein Jahr nach der Diagnosestellung die Lungenfunktion und Laborwerte weiterhin gut, das Befinden des Patienten ebenfalls. Eine Immunsuppression war weiter nicht notwendig. Der Patient fragte mich, ob es nach nunmehr einem Jahr immer noch zur Notwendigkeit einer Therapie kommen könnte und ob er weiter zu Kontrollen kommen müsse.

Diese Fragen kann ich beantworten! Ich kenne dazu einige Studien und habe auch für ein insgesamt recht seltenes Krankheitsbild viele Patienten betreut und behandelt, wodurch ich eigene Erfahrungen sammeln konnte.

Ein scheinbar unscheinbarer Zufallsbefund

Bei diesem Patienten ergab sich jedoch eine auf den ersten Blick eher unscheinbare Besonderheit: In den zahlreichen Krankenhaus- und Arztbriefen, die mir der Patient gut sortiert in einem Aktenordner vorlegte, fand sich ein kurzer Bericht eines Leberarztes. Grund der Vorstellung dort waren vor Jahren leicht erhöhte Leberwerte in Routine-Blutkontrollen.

Die Leber zeigte sich bei der genaueren Untersuchung unauffällig und ist es auch weiterhin. In den umfangreichen Blutuntersuchungen war jedoch, eher als Zufallsbefund zu werten, eine Genvariante bei dem Patienten aufgefallen, die mit einem etwas erhöhten Risiko für eine bestimmte Form der Leberzirrhose einhergeht. Bei einer gesunden Leber absolut irrelevant – eigentlich schade um das Geld für die Untersuchung.

Dabei wäre es wohl auch geblieben, wenn nicht – von vielen Ärzten und Patienten weitgehend unbemerkt – bereits eine Revolution in der Medizin stattgefunden hätte.

Die Revolution findet jetzt statt

Und zwar nicht irgendwann oder in naher Zukunft, sondern genau jetzt! Um es auf den Punkt zu bringen: Selbst wenn es keinerlei weitere Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz gäbe (praktisch ausgeschlossen), würden die aktuellen Fähigkeiten der KI die Medizin und den Beruf des Arztes massiv verändern.

Ich will mich, um diesen Artikel nicht ausufern zu lassen, auf sogenannte große Sprachmodelle (Large Language Models, LLM) als Vertreter der KI beschränken. ChatGPT ist das bekannteste Beispiel mit den meisten Nutzern.

Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Studien, die zeigen konnten, dass LLMs deutlich bessere Diagnosen und Therapieempfehlungen geben können als Ärzte. Eine auch in der New York Times besprochene Studie konfrontierte gut ausgebildete Notaufnahme-Ärzte sowie LLMs mit mehreren Patientenfällen, inklusive Laborergebnissen. Aufgabe war es, eine möglichst korrekte Diagnose zu stellen. Die KI schnitt dabei deutlich besser ab.

Vor zwei Monaten hielt ich einen Vortrag an der Charité zum Thema KI in der Medizin – die Zuhörer waren allesamt Ärzte. Auch hier zeigte ich die genannte Studie und ließ das Auditorium über einen der dort verwendeten Fälle rätseln. Wie viele der Zuhörer stellten die richtige Diagnose? Keiner.

Die Realität der modernen Medizin

Das mag ernüchternder klingen, als es ist. Moderne Medizin findet nicht im "luftleeren Raum" statt. Anders als uns Dr. House weismachen will, rätseln wir meist nicht im Alleingang an einem Patientenfall. Vielmehr werden Diagnosen oft im Zusammenspiel mit Kollegen aus anderen Fachdisziplinen gestellt, es finden Recherchen im Internet statt usw. Unter realistischen Umständen wären wir also wahrscheinlich auch auf die richtige Diagnose gekommen. Wahrscheinlich...

Zurück zu meinem Patienten

Noch während der Patient mir seine Beschwerden berichtete, nutzte ich ein LLM mit der Frage, ob es Zusammenhänge zwischen der entdeckten Genvariante und Sarkoidose gibt. Und ja, es gibt sie! Kein starker Zusammenhang und auch kein direkter – letzteres hätte verhindert, dass ich mit einer einfachen Google-Suche weitergekommen wäre.

So erfuhr ich jedoch, dass die Genvariante häufiger mit einer bestimmten Verlaufsform der Sarkoidose assoziiert ist – einer, die meist in einer spontanen Ausheilung der Krankheit endet. Und das ist wahrscheinlich genau das, was bei diesem Patienten passiert ist. Die Sarkoidose ist ohne jegliche Therapie ausgeheilt.

Zwar weiß ich das aktuell noch nicht mit letzter Sicherheit, aber es ist durch die Informationen des LLM deutlich wahrscheinlicher geworden. Dementsprechend konnte ich den Patienten besser über seine Prognose informieren und auch besser entscheiden, in welchen Intervallen wir Kontrolluntersuchungen durchführen werden.

All das wäre vor den LLMs zumindest sehr schwierig gewesen. Mit viel Zeit hätte ich das auch selbst im Internet herausfinden können (sicher nicht mit Hilfe von Lehrbüchern, die heutzutage in unseren Sprechzimmern ohnehin nur noch dazu dienen, dass Patienten den Eindruck eines belesenen Arztes bekommen). Aber die Menge an Zeit, die ich damit pro Patient benötigen würde, existiert nun mal nicht.

Alltägliche KI-Unterstützung

Das genannte Beispiel ist nur eines von vielen, die ich berichten könnte:

  • Allergische Schocks, die durch eine Kombination von Sport und bestimmten Lebensmitteln auftreten
  • Klavierbauer, die Asbestkontakt hatten, weil Klavierdämpfer bis 1980 teilweise mit Asbest versetzt waren
  • Und viele weitere exotische Fälle

Mindestens einmal pro Woche habe ich einen komplexeren und exotischeren Fall, bei dem LLMs von großem Nutzen für mich (und den Patienten) sind. Und ich bin bereits ein Spezialist, also Facharzt. Das Feld, das ich überblicken muss, ist im Vergleich zu einem Hausarzt viel enger umschrieben.

Die überraschende Zurückhaltung der Kollegen

Ich bin selbst erstaunt, wie wenig mein Kollegenumfeld die Möglichkeiten von LLMs nutzt. Anfang des Jahres hielt ich einen Vortrag vor niedergelassenen Pneumologen – allesamt erfahrene Fachärzte mit eigener Praxis. Auf meine Frage, wer von ihnen LLMs in der täglichen Praxis nutzt, meldete sich niemand. 99% benutzen sie gar nicht, ein einziger Kollege nutzte es etwa einmal im Monat.

Die Zukunft des Arztberufes

Die letzten Jahrzehnte sahen eine immer weitere Spezialisierung von Ärzten auf kleinere Fachbereiche. Es gibt mittlerweile Onkologen, die sich fast nur noch um Lymphome kümmern, Ärzte, die sich nur um die Leber kümmern usw. Das war bisher richtig und notwendig, da der Wissenszuwachs in der Medizin enorm war und es für einzelne Ärzte unmöglich ist, größere Fachbereiche in Gänze zu überblicken.

I am your specialist now

Im nun anbrechenden Zeitalter der KI wird sich dieser Trend erstmals wieder umkehren. Der einfache Zugriff auf praktisch das gesamte medizinische Wissen wird es uns Ärzten wieder ermöglichen, größere Fachbereiche abzudecken. Zunächst wird dies vor allem in "nicht-schneidenden" Feldern geschehen: Rheumatologie, Nephrologie oder Pneumologie.

Hausärzte werden durch den Einsatz künstlicher Intelligenz Patienten mit selteneren oder schwereren Erkrankungen deutlich länger selbstverantwortlich betreuen können, bevor eine Überweisung zu einem Facharzt notwendig ist. Eine insgesamt positive Entwicklung, die das Gesundheitssystem verbessern wird.

Die Patientenperspektive

Auch viele Nicht-Ärzte nutzen mittlerweile LLMs, um ihre Symptome zu verstehen und mögliche Diagnosen zu ermitteln. Das Internet ist voll von Berichten von Menschen, die mutmaßlich dank LLMs endlich eine richtige Diagnose erhalten haben. Diese Entwicklung wird mit all ihren positiven und negativen Effekten voranschreiten.

Mit Sicherheit finden viele Menschen so gute und hilfreiche Informationen für ihre Gesundheit. Wie wir mit den Problemen umgehen, wird sich noch zeigen müssen:

Herausforderungen der KI in der Medizin

Überdiagnostik: In ihrem Bestreben, alle möglichen Erkrankungen abzudecken, werden zum Teil unnötige Untersuchungen empfohlen.

Fehlende "Gestalt": LLMs müssen aktuell mit weniger Informationen auskommen als Ärzte, besonders beim Gesamtbild des Patienten. Bereits auf den ersten Blick erhalte ich eine Fülle an Informationen: Alter vs. Aussehen, Gepflegtheit, Gewicht, Muskelmasse, Bildungsgrad, Stimmungslage – all das fehlt dem LLM.

Verunsicherung: Häufig finden sich bei einer Computertomographie Zufallsbefunde ohne Krankheitswert. Sich genaue statistische Risikomodelle von LLMs vorrechnen zu lassen, kann unnötigen Stress verursachen.

Eine hilfreiche Analogie

Stellen Sie sich vor, ein LLM ist wie ein Formel-1-Wagen. Grundsätzlich kann damit jeder schnell fahren. Trotzdem würde ich keine gute Rundenzeit auf dem Nürburgring erzielen – eher würde ich einen Unfall bauen. So ähnlich ist es mit LLMs in der Medizin: Wenn Ärzte diese nutzen, können gute "Rundenzeiten" erzielt werden, "Unfälle" sind unwahrscheinlicher.

Die KI-Revolution in der Medizin hat bereits begonnen. Die Frage ist nicht, ob sie kommt, sondern wie schnell wir lernen, sie verantwortungsvoll zu nutzen.

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