Science-Fiction wird Realität

Wie Krankheiten an ihrer Wurzel gepackt werden können

CR

Christoph Ruwwe-Glösenkamp

17. Oktober 2025

Neben der täglichen Arbeit in der Praxis gibt es für mich ein Ritual: jeden Donnerstag erscheint die neue Ausgabe eines der wichtigsten medizinischen Fachzeitschriften, dem New England Journal of Medicine, und ich liebe es, dieses an dem Tag zu lesen. Meistens geht es dabei um schrittweise Verbesserungen. Doch manchmal schlägt man eine Zeitschrift auf und merkt: Hier passiert gerade etwas Epochemachendes.

Genau das Gefühl hatte ich diese Woche bei der Lektüre des New England Journal of Medicine. Die Artikel diese Woche zeigen eine Revolution, die gerade stattfindet und die Medizin grundlegend verändert. Die praktische Anwendung der Gen- und Zelltherapie. Was vor wenigen Jahren noch reine Zukunftsmusik war, wird heute zur heilenden Realität. Zwar gibt es seit Jahren immer wieder spanndende und vielversprechende Studien dahingehend, aber die Häufung in dieser Ausgabe des Journals war schon beeindruckend.

Lassen Sie mich einige dieser Entwicklungen aus dieser Woche mit Ihnen teilen.

Unser Immunsystem als programmierbarer Heiler

Stellen Sie sich vor, Ihr Immunsystem greift Ihren eigenen Körper an. Das ist das Grundproblem von Autoimmunerkrankungen wie Lupus. Bisher konnten wir diese Angriffe oft nur mit Medikamenten unterdrücken, die das gesamte Immunsystem dämpfen – mit teils erheblichen Nebenwirkungen.

Zwei neue Studien zeigen nun einen radikal anderen, viel präziseren Weg. Der Ansatz, die CAR-T-Zelltherapie, ist aus der Krebstherapie bekannt. Dabei werden die eigenen Immunzellen eines Patienten im Labor gentechnisch so "programmiert", dass sie gezielt die krankmachenden Zellen erkennen und zerstören.

  • Eine der Studien geht jetzt einen revolutionären Schritt weiter: die "In-vivo"-Therapie bei Patienten mit Lupus. In vivo bedeutet, die Programmierung der Immunzellen findet direkt im Körper statt, nicht mehr im Labor. Den Patienten werden dafür mRNA-Partikel injiziert. mRNA ist eine Art mobiler Bauplan, der den Immunzellen direkt im Körper die Information gibt, welche fehlerhaften Zellen sie angreifen sollen. Das vereinfacht den Prozess enorm und könnte ihn für viel mehr Menschen zugänglich machen.
  • Doch was, wenn einige der krankmachenden Zellen diesem Angriff entgehen? Eine zweite Studie liefert die Antwort. Sie zielt auf die sogenannten Plasmazellen, die oft tief im Gewebe verborgen sind und für hartnäckige Krankheitsschübe sorgen. Mit einem speziellen "molekularen Klettband" (einem BCMA-T-Zell-Engager) werden die körpereigenen Killerzellen an genau diese restlichen Plasmazellen geheftet, um auch sie zu eliminieren. Dieser Ansatz könnte also dann zum Einsatz kommen, wenn die erste Therapie nicht alle Problemzellen erwischt hat.

Es ist ein zweistufiges, hochpräzises Vorgehen statt der bisherigen Behandlung mit dem Holzhammer.

Genetische „Tippfehler“ korrigieren: Heilung statt lebenslanger Behandlung

Viele schwere Krankheiten werden durch einen einzigen Fehler im genetischen Code verursacht. Die Gentherapie zielt darauf ab, den Fehler an seiner Quelle zu beheben – eine echte Reparatur.

Zwei Studien dieser Woche zeigen eindrucksvoll, was das bedeutet:

Heilung für „Bubble Boys“: Kinder, die ohne funktionierendes Immunsystem zur Welt kommen (ADA-SCID), können nun durch eine einmalige Gentherapie dauerhaft geheilt werden.

Hören wiederherstellen: Kindern mit erblich bedingter Taubheit konnte durch das Einbringen einer gesunden Gen-Kopie direkt ins Innenohr das Gehör geschenkt werden.

Das sind keine Einzelfälle mehr. Immer mehr angeborene Krankheiten werden auf diese Weise heilbar. Ein Meilenstein war kürzlich die Zulassung der ersten Gentherapie gegen die Sichelzellanämie. Und der Blick in die Zukunft ist für uns als Lungenärzte besonders spannend: Therapien für den angeborenen Alpha-1-Antitrypsin-Mangel (A1AT-Mangel), eine Ursache für Lungenerkrankungen, werden bereits intensiv erforscht und rücken in greifbare Nähe.

Die Nadel im Heuhaufen finden – in Rekordzeit

All diese Therapien nützen nur, wenn wir die genaue genetische Ursache einer Krankheit kennen. Gerade auf der Intensivstation, wenn ein Kind lebensbedrohlich erkrankt, ist Zeit der entscheidende Faktor.

Eine weitere Studie beschreibt hier einen unfassbaren Durchbruch: Eine komplette Genomsequenzierung – also das Auslesen des gesamten menschlichen Erbguts – gelang bei einem kritisch kranken Neugeborenen in weniger als vier Stunden.

Um das in den Kontext zu setzen: Das ursprüngliche Human Genome Project, das erstmals das menschliche Genom entschlüsselte, wurde im Jahr 2003 nach 13 Jahren Arbeit offiziell für beendet erklärt. Was damals über ein Jahrzehnt dauerte und Milliarden kostete, ist heute eine Sache von Stunden. Diese Geschwindigkeit erlaubt es Ärzten, quasi in Echtzeit eine Diagnose zu stellen und eine lebensrettende Therapie einzuleiten.

Was bedeutet das für uns alle?

Wir befinden uns mehr und mehr in einer Medizin, die Krankheiten nicht mehr nur verwaltet, sondern sie auf molekularer Ebene versteht und heilt. Es ist eine unglaublich spannende Zeit, Arzt zu sein. Und es erfüllt mich mit großer Demut und Optimismus, Zeuge dieses rasanten Fortschritts zu sein, der so viel Hoffnung für Menschen bedeutet.

Zurück